Trostlosigkeit, Trauer und Tränen. Dieses Foto spricht Bände. Die Frau hat es mit ihrem kleinen Kind in einen der Evakuierungsbusse geschafft, die die Menschen aus der zentralukrainischen Großstadt Kamjanske am Dnjepr heraus in den vermeintlich sicheren Westen des Landes bringen. Unbegreiflich, jetzt den Vater ihres Kindes und andere liebe Menschen zurücklassen zu müssen, das Zuhause von russischen Raketen getroffen – ein unfreiwilliger Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Die Verzweiflung über diese unmenschliche Kriegswirklichkeit, ihr soeben begonnenes Flüchtlingsschicksal zerreißt sie. Allein die Tochter im Arm gibt ihr etwas Kraft. Und der unsichere Fluchtweg steht erst noch bevor. Viele Fluchtkorridore sind angegriffen worden.
In erster Linie sind es Frauen, Kinder und ältere Menschen, die der russische Angriffskrieg in der Ukraine zur Flucht zwingt. Laut den Vereinten Nationen hat der bewaffnete Konflikt mitten in Europa eine der schlimmsten Flüchtlingskrisen aller Zeiten verursacht. Innerhalb von sechs Wochen seien mehr als 4,2 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflüchtet. Die Zahl der Menschen, die innerhalb der Ukraine auf der Flucht vor dem Krieg sind, lag Anfang April nach sechs Wochen bei 7,1 Millionen.
Menschen aus der Stadt finden oft bei Familien auf dem Land Aufnahme oder kommen in Sammelunterkünften im Westen der Ukraine unter, etwa in Ivano-Frankivsk. Zwar hat es auch in der Nacht auf den 24. Februar, als Russland den Angriff begonnen hat, Raketeneinschläge auf den Flughafen dieser Stadt im Südwesten des Landes am Fuß des Karpatengebirges gegeben. Seitdem heulen in Ivano-Frankivsk aber deutlich seltener die Sirenen zum Luftangriff.
Die Suppenküche der Malteser lindert erste Not
Landesweit ist die griechisch-katholische Kirche in der Minderheit, hier in der historischen Region Galizien ist es umgekehrt: Sechs von zehn Ukrainern sind griechisch-katholisch und diese mit dem Papst in Rom verbundene Kirche mit ostkirchlicher Liturgie und Tradition hat eine wichtige Stellung. Diese zeigt sich jetzt im Krieg umso mehr. Da ist etwa die spontane Suppenküche der Malteser auf dem Vorplatz der Heilig-Pokrowski-Kathedrale. Mehr als 600 Essen werden hier seit Anfang März täglich aus einem Zelt an Bedürftige verteilt. Um dies zu stemmen haben die Malteser eine Feldküche aufgebaut, wie sie auf ihrer Facebook-Seite informieren. Oder die Aufnahme von fast 500 Flüchtlingen und Kriegsversehrten in den Räumen der Erzeparchie Ivano-Frankivsk, der griechisch-katholischen Entsprechung eines Erzbistums. Allein 80 Menschen sind im katholischen Gymnasium Sankt Blasius untergekommen, berichtet Markian Bukatchuk von der Eparchie in einem Telefongespräch. Wie viele andere Nothilfe-Initiativen werde auch dies möglich durch die Unterstützung vieler deutscher Katholiken, etwa über Spenden an das Osteuropa- Hilfswerk Renovabis.
Der 29-Jährige Bukatchuk ist griechisch-katholischer Priester und zugleich Direktor des Gymnasiums Sankt Blasius. „Wir haben Matratzen aufgestellt, es gibt ein Frühstück und auch Abendesse“, erzählt er vom ungewöhnlichen Schulalltag. „Die Menschen sind dankbar, es ist hier sicher.“ Auch der Schulbetrieb läuft – nach einer Zwangspause bis Mitte März – nun weiter. Wie im Corona-Lockdown geschieht dies online und statt 45 dauert eine Unterrichtsstunde nun 30 Minuten. Ohnehin sei ein Teil der Kinder ins Ausland geflohen, berichtet Direktor Bukatchuk. „Auch die Lehrer. Doch online per Videokonferenz sind die allermeisten weiterhin Teil der Schule.“ Bukatchuk fügt hinzu: „Wir können den Menschen schließlich nicht sagen, dass sie bleiben müssen, wenn sie Angst um ihr Leben haben.“ Eine Angst, die er als Geistlicher gut versteht.
Als griechisch-katholischer Priester ist Bukatchuk – ähnlich wie viele Kleriker der orthodoxen Kirchen – verheiratet und hat zwei Kinder. Am Morgen des 24. Februar haben sie vom zehnten Stockwerk ihrer Wohnung in einem Mietshaus aus die Rauchschwaden von den ersten russischen Einschlägen gesehen. „Wir haben uns angezogen, haben das Auto betankt, und ich habe die Familie zu den Schwiegereltern gebracht“, erinnert er sich. Nach drei Wochen sind sie wieder zurückgekommen. „Wenn die Familie zu lange auseinander ist, dann ist das nicht gut“, sagt der junge Papa und Ehemann. „Kurzum: Wir vermissten uns.“ Aber was bedeutet der Krieg für Familien, die länger getrennt sind? Etwa weil der Mann eingezogen wurde und im Osten kämpfen muss und die Frau mit den Kindern beispielweise in Ivano-Frankivsk Unterschlupf gefunden hat? Wenn gar Familienangehörige durch russischen Beschuss ums Leben gekommen sind? Der Krieg zerstört eben nicht nur militärische Objekte; Bomben und Granaten werden auf Wohnsiedlungen, Krankenhäuser, Kindergärten, Bahnhöfe, ganze Städte abgefeuert. Unschuldige Zivilisten werden angegriffen; viele Menschenleben sind ausgelöscht worden. Angesichts dieses menschenverachtenden, brutalen Leids erzählt der Familienvater, Pädagoge und Priester „Vater Markian“, wie sie Bukatchuk nennen, dass er nun auch Psychologe sein muss. „Die Menschen haben Ängste, die sie wirklich sehr belasten“, sagt er. Vater Markian rät, die Hoffnung nicht aufzugeben und auch zu beten: „Für uns ist das Gebet die größte Waffe“.
Die Grenzen zwischen den Kofessionen werden unwichtig
Die Kirche in der Ukraine gibt den Menschen nicht nur im Gebet Halt. Mit Unterstützung von ausländischen Partnern wie der deutschen katholischen Osteuropa- Solidaritätsaktion Renovabis hat man gleich nach Kriegsbeginn begonnen, humanitäre Soforthilfe zu leisten, Schutzräume in den eigenen Gebäuden einzurichten und bei der medizinischen Versorgung zu unterstützen. So behandelt die katholische Ambulanz in Ivano-Frankivsk Kriegsversehrte und
Binnenflüchtlinge aus dem Osten kostenlos, ganz gleich welcher Konfession. Ohnehin sind die Grenzen zwischen den Konfessionen – in der Ukraine sind die orthodoxen Kirchen in der Mehrheit – im Krieg nicht mehr so wichtig, weiß Bischof Pawlo Honczaruk. Der 44-Jährige ist der römisch-katholische Hirte von Charkiv-Saporischschja, ganz im Nordosten der Ukraine, unmittelbar an der russischen Grenze. Er spricht in einem Interview davon, dass die guten Beziehungen zur orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats – also nicht zu Kirchenoberhaupt Kyrill in Moskau – jetzt verbessert worden seien: „Der Krieg hat uns noch mehr dazu gebracht, dass wir zusammen den Menschen helfen.“ Charkiv war von Beginn an stark von russischen Kräften attackiert, auch das Bischofshaus von Monsignore Pawlo wurde schwer getroffen. Dennoch versprüht der Bischof Hoffnung, die er aus seinem Glauben schöpft. „Die Rolle der Kirche ist enorm wichtig“, sagt Myroslaw Frankovych Marynowytsch (73 Jahre), ehemaliger Dissident, der in der Ukraine allgemein als Galionsfigur des kirchlichen Widerstands gegen die sowjetische Diktatur anerkannt ist. „Da ist einmal die humanitäre Hilfe aus Solidarität und als eine Sorge um die Menschen“, zählt der heutige Vizepräsident der Katholischen Universität der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in Lviv/Lemberg auf. Zudem leiste die Kirche – die römisch-katholische wie die griechisch katholische – durch ihre Seelsorge jene wichtige spirituelle Unterstützung: „Das gibt den Menschen Kraft.“