Schrumpfende Bevölkerung
Die Bevölkerung der Republik Moldau schrumpft ständig: Nach dem Ende der Sowjetunion lebten in dem Land noch fast 4,5 Millionen Menschen, heute sind es - je nach Statistik - weniger als 2,5 Millionen, Tendenz weiter sinkend, pro Jahr um etwa zwei Prozent. Als Folge der Migration breitet sich im Land ein gravierender Fachkräftemangel aus. Markus Nowak (Text und Fotos) hat mit Menschen gesprochen, die entweder selbst im Ausland gearbeitet haben oder die mit den Folgen der Arbeitsmigration konfrontiert werden.
Paweł Olejnik: Sehnsucht nach Zuhause
Paweł Olejnik hat momentan viel Zeit. Der 28-Jährige wartet darauf, dass seine Papiere fertig werden - Arbeitserlaubnis, Aufenthaltstitel und so weiter. Er will wieder fort. „Für fünf, sechs Monate und dann komme ich wieder zurück - ich habe ja Sehnsucht nach meinem Zuhause hier, nach meiner Familie.“ Hier, das ist Slobozia-Rașcov, eine kleine Siedlung in Transnistrien, einem abtrünnigen Teil der Republik Moldau, unweit der Grenze zur Ukraine. Die Familie besitzt wie viele Menschen in Transnistrien einen kleinen Acker. Der 28-Jährige hat gleich nach der Schule 2018 im Ausland nach Arbeit gesucht und sie in Polen gefunden. Als Maurer, Schweißer oder Monteur – Paweł ist vielseitig und derzeit bei einer Firma im polnischen Toruń/Thorn beschäftigt. Sein Arbeitsalltag dauert meist zehn Stunden, geschlafen wird in einfachen Arbeiterhotels. Für Hobbies bleibt da keine Zeit. Mit dem verdienten Geld unterstützt er seine Eltern und will sich eine eigene Wohnung kaufen. Er ist nicht der einzige Arbeitsmigrant in seiner Familie. Schon sein Vater ist monateweise nach Kiew/Kyiv zur Arbeit gefahren. „Wir waren drei Söhne in der Familie, gingen in die Schule und brauchten Anziehsachen“, erinnert er sich. „Das war schwer.“ Aus dieser Erfahrung hat er gelernt. „Wenn ich hier eine Frau und Kinder hätte, dann würde ich sicher zurückkommen und zu Hause nach Arbeit suchen“, sagt er. „Ich finde es nicht gut, wenn die Kinder so selten den Vater sehen.“ Ob es leicht für ihn sei, jemanden kennenzulernen bei diesem Lebensstil, einige Monate im Arbeiterhotel, selten zuhause? Paweł überlegt. „Vielleicht lerne ich eine Polin kennen und bleibe dort?“
Lilian (18): „Es ist traurig, dass wir alle gehen müssen“
Der Geruch nach Kupfer, Zink und anderen Metallen liegt in der Luft, dumpfe Geräusche kommen aus allen Ecken und die Funken sprühen nur so. Eben noch saß Lilian mit den anderen Jungen im Klassenzimmer und hat Theorie gepaukt, nun hat er eine schwere, lederne Schürze um und trägt eine Schutzmaske, die sein ganzes Gesicht bedeckt - die sogenannte Schweißerbrille. Lilian ist Berufsschüler aus der moldauischen Hauptstadt Chișinău. Wenn er die Schutzkleidung ablegt, kommt ein lässiger Teenager im Hoodie und den bei Jugendlichen in Ost- und Westeuropa beliebten, nach vorne gewellten Haaren hervor. „Ich will Schweißer werden“, sagt der 18-Jährige. „Und dann ins Ausland gehen, zum Arbeiten.“ Ganz sicher sei er sich noch nicht. „Aber ich will es im Ausland versuchen.“ Die praktischen Kurse seiner Ausbildung finden im Oratorium im Salesianerkloster statt, das den jungen Schülern moderne Schweißgeräte zur Verfügung stellt. Er ist nicht der einzige Junge seines Kurses, der vorhat, im Ausland Geld zu verdienen. „Es ist traurig, dass wir alle gehen müssen“, sagt Lilian. Aber die Jobs im Land seien rar und die Löhne niedrig. „Das ist halt so in Moldau. Hier ist alles so teuer und wir brauchen Geld. Die einzige Lösung ist es, ins Ausland zu gehen zum Arbeiten.“ Die Bezahlung sei einfach besser, weiß der 18-Jährige. Seine Mutter arbeitet schon seit acht Jahren in Israel, er lebt bei einer Tante in einem Vorort von Chișinău. „Klar vermisse ich sie, aber das ist die Realität.“ Zur Realität gehört auch, dass Lilian nicht so einfach im Westen arbeiten darf. Es bedarf Papierarbeit und Genehmigungen. Daher will er sich neben seiner Ausbildung auch um die rumänische Staatsbürgerschaft bemühen. Wie viele Moldauerinnen und Moldauer hat er wegen verwandtschaftlicher Verhältnisse Anspruch darauf. Ein rumänischer Pass würde ihm erlauben, in der EU zu arbeiten, denn Rumänien ist im Gegensatz zu Moldau ein EU-Land. „Ich will aber nicht für immer im Ausland arbeiten“, sagt Lilian. „Sondern später zurückkommen.“
Alisa (30): „Das Geld hat immer gefehlt.“
Alisa und Radosław verbindet nicht nur die Liebe zueinander und der Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft. Beide haben, jedoch getrennt voneinander, eine ähnliche Erfahrung gemacht: Sie haben ihr Zuhause verlassen, um im Ausland Geld zu verdienen. Alisa war 25 Jahre alt, als sie den Entschluss fasste, ihr Heimatdorf Slobozia-Rașcov in Transnistrien zu verlassen, um im Ausland nach einem Job zu suchen. „In Transnistrien habe ich damals 120 US-Dollar im Monat verdient und musste davon mein Leben bestreiten“, erinnert sich die 30-Jährige heute. „Das Geld hat immer gefehlt.“ Zuerst stand sie am Band einer Autofabrik im südpolnischen Tychy. Später, als sie ihre Anerkennung als Pflegekraft bekam, arbeitete sie im zentralpolnischen Bydgoszcz in einem Seniorenheim. Mittlerweile macht sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, ist bereits in einem Krankenhaus tätig und kann davon ihr Leben bestreiten und ihren Eltern Geld zur Unterstützung schicken. Den ein Jahr jüngeren Radek traf sie vor eineinhalb Jahren in Polen. „Ich habe vier Jahre lang in Holland gearbeitet und kann mich gut einfühlen, wie sich Alisa fühlt“, sagt er und meint damit die Herausforderungen, die auch er als Arbeitsmigrant in der fremden Umgebung hatte. Er heuerte über eine Arbeitsvermittlung in einer Eisfabrik in den Niederlanden an. Motiviert habe ihn damals das höhere Gehalt, das er im Vergleich zu Polen in Holland hatte. Die Rückkehr nach Polen sei ihm dann schwerer gefallen. „Da muss man selbst Geld für die Rückkehr haben“, sagt Radek. Heute arbeitet der 29-Jährige als Busfahrer und überlegt wieder, einen Job im Ausland anzunehmen. In Deutschland etwa und dieses Mal zusammen mit Alisa. Wobei beide Bedenken haben. „Wir sind nicht mehr Anfang Zwanzig“, sagt Alisa. Nächstes Jahr wird erstmal geheiratet.
Pater Marcin Januś: „Das Band zwischen Kindern und Vätern kann sich lösen“
„Es war mein Traum, in Afrika zu arbeiten“, sagt Pater Marcin Januś SCJ zu seiner Motivation, in den Orden der Herz-Jesu-Priester einzutreten und Missionar zu werden. Am Ende wurde es Transnistrien statt Tansania. „Nach Afrika bin ich nicht gekommen, aber ich bin hier erfüllt und mein Traum realisiert sich hier“, sagt der 50-Jährige, der seit zwölf Jahren in dem von der Republik Moldau abtrünnigen Gebiet lebt. Seit 2016 ist er Pfarrer in Slobozia-Rașcov, der wohl einzigen Gemeinde im Bistum Chișinău mit einer katholischen Mehrheit. Rund 400 bis 500 Einwohner hat die Siedlung, etwa 300 von ihnen gehören zur katholischen Kirchengemeinde, viele davon haben polnische Wurzeln. Deshalb suchen viele Gemeindemitglieder in Polen nach Arbeit, erzählt der Ordensmann, der selbst aus dem südpolnischen Tarnów stammt. „Wir haben viele, die saisonal wegfahren. Manche bleiben bis zu zehn Monate weg“, beobachtet Pater Marcin. Meistens seien das Männer – die sehe er dann zu Weihnachten oder im Sommer in der Kirche wieder, wenn sie auf „Heimaturlaub“ seien und ihren Frauen im Garten helfen. Die Frauen seien zum Arbeiten häufig kürzer im Ausland. „Aus allen Häusern hier im Dorf ist schon jemand im Ausland gewesen“, berichtet er. Für die Familien sei diese Form der Arbeitsmigration eine Herausforderung. „Oft sehen die Kinder über zehn Monate ihre Väter nicht.“ Über Spielzeug oder andere Geschenke versuchen sie, die Abwesenheit zu kompensieren, beobachtet der Pfarrer. „Aber das Band zwischen ihnen kann sich lösen.“ Spricht er als Seelsorger über diese Migration? Immer wieder kommen seine Gemeindemitglieder mit der Bitte um Unterstützung zu ihm, etwa beim Ausfüllen von Visaanträgen. Dann fragt er schon mal nach, ob ein legales Arbeitsverhältnis im Ausland bestehe und auch eine Unterkunft gesichert sei. Doch wenn die Entscheidung getroffen wurde, ins Ausland zu gehen, könne er nichts machen, sagt der Pater. Außer im heimatlichen Gottesdienst auf seine Gläubigen zu warten.