Über die Ikone
„Mir ist keine Ikone bekannt, die in dieser drastischen Weise auf ein aktuelles Unglück Bezug nimmt“, schreibt der Ikonenmaler Fleckenstein über die Ursprungs-Ikone von Angela Heuser. Die Ikone zeigt den in österliches Weiß gekleideten Auferstandenen, umgeben von fünf Kindern, die alle mit ihren Händen den direkten, tröstenden Kontakt mit Christus suchen - eine berührende Botschaft. Im Hintergrund die Katastrophe: ein Atomkraftwerk, zerstörte Gebäudeteile, der Himmel getaucht in glühendes Gelb und Rot, durchzogen von dunklen Rauchschwaden des havarierten Reaktors.
Aus der Bildbetrachtung und Meditation zur Ikone
„Dieser göttliche Tröster will zeigen: Es gibt die Möglichkeit einer anderen Welt, einer Welt ohne Ausbeutung der Natur und einer mit Anteilnahme am Leid der anderen. Er hat als Vision eine Gemeinschaft, in der die Schwachen unterstützt, die Kranken nicht ausgegrenzt, und Kinder willkommen sind. Christus zeigt, dass Trösten mitten in dieser oft so zerrissenen Welt eine sanfte Revolution bewirken kann. Trösten ist bei aller Ruhe ein handfestes Handeln. Menschen sehen sich nicht im Stich gelassen, wenn es schwierig wird und sie schöpfen wieder Hoffnung.“
Bildbetrachtung und Meditation
Menschenskinder! Zur schöpfungstheologischen Bedeutung der Ikone „Christus tröstet die Kinder von Tschernobyl“
Hinführende Gedanken
Diese Ikone ist schon deshalb ungewöhnlich, weil sie ein zeitgenössisches Ereignis zum Anlass nimmt, das Reaktorunglück von Tschernobyl aus dem Jahre 1986. Es handelt sich um eine erweiterte Ikonenabschrift von Prof. Wolfgang Fleckenstein, die dieser im Auftrag der Katholischen Erwachsenenbildung Forchheim erstellt hat.
Gesamteindruck
Im Mittelpunkt dieser Ikone steht der Auferstandene, Christus in seinem österlich-weißen Gewand, das aufstrahlende Moment in dieser sonst eher düster-beklemmenden Darstellung. Er hat sich auf einem Erdhügel niedergelassen und trägt ein kleines Mädchen auf seinem Schoß. Ihn umringen vier weitere Kinder, die alle den unmittelbaren Kontakt mit ihm suchen.
Die ganze Szenerie findet in einer wüstenartigen, dunklen Landschaft statt, in dem sich nur mehr ein dürres Baumgerippe in den gelb-rot gefluteten Himmel reckt. Im rechten Hintergrund wird die Ursache dieser trostlosen Situation im havarierten Reaktor von Tschernobyl sichtbar. Im Vordergrund sind Tiere zu sehen.
Exemplarische Bedeutung dieser Ikone
Diese Ikone macht am Beispiel des Atomreaktorunglücks von Tschernobyl auf die Schöpfungsverantwortung aufmerksam. Angesicht des Leids, dem vor allem Kinder hilflos ausgeliefert sind, ist zuallererst Trösten gefordert. Viele sind heute der Meinung, dass in der Bibel nichts zu Atomkraft stehe. Mit Glauben habe dies nichts zu tun. Solche Darstellungen muten manchen Zeitgenossen dann schon eher als eine naiv-kindliche Zumutung an. Sie lehnen solche, in ihren Augen allzu billige Vertröstung angesichts des unsäglichen Leids schlichtweg ab. Wie kommt die Glaubenshaltung des Mitleidens, der Sympathie für die Schöpfung Gottes in dieser Ikone zum Ausdruck? Oder ist es doch so, dass wir nur hilflos und hoffnungslos zuschauen und klagen können: Menschenskinder, was habt ihr getan? Als Gläubige dürfen wir nicht nur den bemitleidenswerten Menschen als Geschöpf ansehen. Immer wieder werden Tiere ausdrücklich in der Bibel genannt als Lebewesen der Schöpfung. Es geht um die Erlösung der gesamten Schöpfung.
Die Bedeutung der Tiere
Schöpfung darf nicht nur auf den Menschen bezogen sein, sie umfasst die ganze Schöpfung, zu der in besonderer Weise die Tiere gehören. Daher sind auch Tiere in diese Ikone aufgenommen. Hund und Katze sind als Haustiere nicht nur für Kinder wichtig. An ihnen erleben sie die Lebendigkeit der Schöpfung. Tiere müssen umsorgt und gepflegt werden. Und schließlich sehen sie an ihnen die Hinfälligkeit allen Lebens. Das Lamm und der Vogel, in der Hand des am Fuße Christi sitzenden Jungen, stehen für die Symboltiefe der Ikone. Der Vogel symbolisiert den Heiligen Geist und das Lamm steht für den leidenden Gottesknecht. Die Schildkröte repräsentiert schließlich die außermenschliche Schöpfung. Sie ist ein Tier, das schon weit vor der Menschheitsgeschichte auf diesem Planeten existierte und bis heute überlebt hat.
Trösten als Schöpfungsverantwortung
Auf dieser Ikone ist eine Katastrophe am Horizont und die Hoffnung im Zentrum zu sehen. Und wir erleben derzeit eine weltweite Virus-Epidemie, bei der es scheint, als müsste jede Generation beides durchleiden und erhoffen.
Oft bleibt dann nur der Trost angesichts sinnlos Leidender, der sich dadurch ausdrückt, dass jemand bei den Leidenden bleibt – und nicht wegschaut, schnell weitergeht und jeden Kontakt vermeidet. Christus ist nicht einfach mal kurz stehengeblieben, um ein paar Worte zu sagen, Er setzt sich mitten in den Staub dieser heillosen Geschichte. Er nimmt sich Zeit für diese leidenden Kinder. Christus weiß, dass Katastrophen Menschen die Füße unter den Beinen wegziehen. Er zeigt so Mitgefühl. Die Sprache der vielen Hände ist im wahrsten Sinne des Wortes berührend. Durch diese Bezogenheit untereinander entsteht gegenseitige trostvolle Stütze. Die Einsamkeit des Leidens ist durchbrochen.
Das zweite Zeichen des Trostes ist die Ruhe, die Jesus ausstrahlt. Er sitzt ganz gelassen da, unaufgeregt geht er in Kontakt mit den Menschen. Er zeigt Anteilnahme dem kleinen Mädchen gegenüber, das er auf dem Schoß hält. Es ist dies die Trostgeste der Mutter, die ihr Kind auf die Arme nimmt, um es zu halten und zu bergen.
Die rechte Hand Christi ist zur Schale geöffnet, so dass das kleine Mädchen seine Hand hineinlegen kann. Der Mensch kann nicht tiefer fallen, als in die Hände des mütterlichen Gottes.
Dieser göttliche Tröster will zeigen: Es gibt die Möglichkeit einer anderen Welt, einer Welt ohne Ausbeutung der Natur und einer mit Anteilnahme am Leid der anderen. Er hat als Vision eine Gemeinschaft, in der die Schwachen unterstützt, die Kranken nicht ausgegrenzt, und Kinder willkommen sind. Christus zeigt, dass Trösten mitten in dieser oft so zerrissenen Welt eine sanfte Revolution bewirken kann. Trösten ist bei aller Ruhe ein handfestes Handeln. Menschen sehen sich nicht im Stich gelassen, wenn es schwierig wird und sie schöpfen wieder Hoffnung.
Wer tröstet, ist ein hoffnungsloser Optimist, der offenbar macht: Menschen können einander immer wenigstens im Trösten beistehen und die Erde für alle bewohnbar machen.
Über den Autor
Wolfgang Fleckenstein war Professor für Religionsdidaktik und Bildungsfragen an der Luxembourg School of Religion & Society in der Erzdiözese Luxemburg. Der langjährige Religionslehrer und ehemalige Ausbilder für Religionslehrerinnen und -lehrer ist seit 35 Jahren Ikonenschreiber und seit vielen Jahren auch Leiter von Ikonen-Malkursen.
Zum Weiterlesen: Die ausführliche Meditation von Wolfgang Fleckenstein
Tschernobyl-Ikone (PDF, 267 kB)
Menschenskinder! Zur schöpfungstheologischen Bedeutung der Ikone „Christus tröstet die Kinder von Tschernobyl" - Eine Meditation von Wolfgang Fleckenstein